Moderne und Anti-Illusionismus

In frontaler Ansicht gibt dies Kunstwerk des Bildhauers Anish Kapoor nicht zu erkennen, dass es sich um ein dreidimensionales Objekt handelt – es scheint zu sein, was es nicht ist: ein Paradox flacher Tiefe. Man hält es nicht wirklich dafür, doch man denkt an Malerei. Der vermeintlich hinter die Ebene der Wand reichende Tiefenraum wendet das Moment der Täuschung – seit der Antike ein philosophisches Stigma der Malerei, der es um Mimesis zu schaffen sei – in ein Moment der Täuschung über Täuschung. Trügerisch wie die Hervorbringung eines Scheins, der von Realität nicht unterschieden werden kann, ist die Hervorbringung einer Realität, die nicht von Illusion unterschieden werden kann. Das bekommt man hier zu spüren, indem man sehr wohl ahnt, dass die tiefenräumliche Wirkung kein bloßer Schein ist, sondern auf der faktischen Beschaffenheit des ansichtigen Objektes beruht. Was sich dem Auge darbietet bleibt indessen im Unbestimmten zwischen räumlich anmutende Fläche und flächig anmutendem Raum.

Das Verhältnis von Fläche und Raum ist in der Malerei immer wieder befragt worden. Ausgehend von der faktischen Flachheit des Bildträgers hat die Avantgarde des 20. Jahrhunderts – voran im Kubismus – einen programmatischen Anti-Illusionismus vertreten. Die Entwicklung der abstrakten und ungegenständlichen Malerei wurde dabei gerade im Hinblick auf ihre Entfaltung einer positivistischen Raumauffassung als ein Fortschritt begriffen, in dem sich der aufklärerische Anspruch der Moderne verwirklicht. Von diesem Pathos getragen hat man insbesondere in der geometrischen Abstraktion eine Radikalisierung der Formensprache betrieben, die bis hin zum völligen Verzicht auf räumliche Wirkungen erzielende zeichnerische und koloristische Mittel reicht. Der weltverbesserische Anspruch dieser Entwicklung kann – zusammen mit dem Projekt der Moderne selbst – als gescheitert angesehen werden. Kurz gesagt in den Worten von Zygmunt Baumann: „Geometrie ist der Archetyp des modernen Geistes. Das Raster ist ihr beherrschender Ausdruck (und unter diesem Aspekt ist Mondrian der repräsentativste unter ihren bildenden Künstlern). […] Geometrie zeigt, wie die Welt wäre, wäre sie geometrisch. Aber die Welt ist nicht geometrisch, sie kann nicht in geometrische Raster eingezwängt werden.“ (Zygmunt Baumann, Moderne und Ambivalenz, 1995 Fischer Taschenbuch, S.29) Baumanns Polemik richtet sich wohlgemerkt nicht gegen eine geometrisch reduzierte Formensprache in den bildenden Künsten, sondern gegen ihre ideologische Festlegung; solcherart ist die Herrschaft des rechten Winkels Ausdruck einer Kontrollmoderne, deren Rationalität die menschliche Wirklichkeit nicht erhellt sondern verdeckt.

Die Auffassung der avantgardistischen Moderne, dass es in der Entwicklung der Künste einen Fortschritt gibt, der sich in der Behandlung ihrer formalen Mittel erweist, und dass sich in diesem Fortschritt auch gesellschaftsbezogen eine inhaltliche Wahrheit vermittelt, hatte auf Seiten der Philosophie in Theodor W. Adorno einen prominenten Vertreter. Aus dem für Adornos Ästhetische Theorie zentralen Gedanken, „dass Kunstwerke auf Wahrheit, auf Erkenntnis aus seien, dass sie gleichsam Objektivationen des Geistes darstellen, aber dass sie diese Wahrheit nicht durch einen Begriff, sondern ihre Form zum Ausdruck bringen“ ergibt sich in der Konsequenz, dass Kunstwerke „nicht unmittelbar sein können.“ Mit anderen Worten: „Es gibt keine intuitive Kreation von Kunst, aber auch keine intuitive adäquate Rezeption von Kunst.“ (Konrad Paul Liessmann, Philosophie der modernen Kunst, 1993 WUV-Universitätsverlag, S.138f)

INTUITION – das ist der Titel der sechsten und letzten Ausstellung im Palazzo Fortuny in Venedig, wo noch bis zum 26.11.2017  Kapoors White Dark VIII zu sehen ist. Man mag diesen Titel als eine Ansage lesen, oder aber als eine Frage, die nicht zuletzt auf Adornos Werkästhetik verweist, seine Absage an die Unmittelbarkeit von Kunstwerken, die im Zusammenhang mit seiner Idee einer Wahrheit steht, die sich im Kunstwerk objektiv zuträgt, dabei aber einem Rätsel ähnelt.

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